Der Übergang von Europa nach Asien wäre mir im Regen doch beinahe entgangen, wie er da 10km vor Ekaterinburg bescheiden mit einer Stehle am Straßenrand markiert ist.
Heute morgen werde ich im Zelt noch von der Sonne geweckt, doch der Schein trügt, denn dunkle Wolken sind aus dem Westen im Vormarsch. Ich schaffe es gerade noch im Trockenen einzupacken und den ersten Tropfen in Richtung Osten zu entkommen. Etwa 60km später erwischt es mich dann doch, und ich lege nach 4.400km zum ersten Mal die Regenklamotten an – es bleibt jedesmal eine Tortour!
Der Regen ist nicht das Problem, aber das Thermometer sinkt auf 6 Grad, und das ist nicht lustig! Außerdem sind die Straßen so dreckig, dass ich bei Ankunft im verregneten Ekaterinburg aussehe wie ein Schwein – komplett mit einer braunen Brühe überzogen.
Ich lasse mich erstmal in einem Restaurant nieder und genieße einmal mehr die Vorzūge der generell sehr sauberen und modernen öffentlichen Toiletten und Waschräume. Dann esse ich mein erstes Bortsch. Obwohl ich kein Freund von roter Beete bin, schmeckt diese Suppe mir sehr gut. Dann hört der Regen auf und die Sonne kommt sogar zum Vorschein. Zeit rauszugehen und sich das bunte Treiben in der Stadt anzusehen, denn es ist der 9. Mai und da feiert der Russe das siegreiche Ende des „Großen Vaterländischen Krieges, der hier von 1941-45 gezählt wird. Eigentlich komisch, dies zu feiern angesichts der 20 Millionen verlorenen Leben allein auf russischer Seite!
Nach 4 Stunden verlasse ich die ausgelassen feiernde Stadt, ohne an einem der zahllosen Verkaufsständen Kriegsdevotionalien gekauft zu haben, wie es die Menschen gern und massenhaft tun. Ich fahre noch gut die halbe Strecke bis Tjumen – der westlichsten Stadt Sibiriens – und gebe mir die erste Hotelübernachtung auf dieser Reise, denn sämtliche Wege zu potentiellen Schlafplätzen abseits der Straße sind durch den Regen nur mit großem Risiko des Steckenbleibens zu befahren und das brauche ich heute nicht mehr! Außerdem bin ich einer Dusche auch nicht abgeneigt.
Besonders interessant war der gestrige Tag, den ich auf kleineren Straßen verbracht habe. Über Birsk, Testuba und Arti wollte ich eine Strecke nehmen, die mich näher an die kleinen Dörfer auf dem Land bringt. Es sind wohl noch die Ausläufer des Urals, doch mehr als eine Hügellandschaft nehme ich nicht wahr.
Nach Birsk komme ich über eine Pontonbrücke, die für den Fall einer Schiffspassage um ein Segment, an dem ein Motorboot vertäut ist, befreit wird – eine interessante Konstruktion!
Ich bezahle die Überfahrt mit 10 Rubel (13 Cent) und mische mich in Birsk unter das Volk auf dem Markt. Ein Mann in den Sechzigern spricht mich an. Man bespricht das Übliche: Woher und Wohin, doch dann macht er seinem Frust über die kommunistische Regierung und den bevorstehenden Feiertag Luft. Er versteht wohl nicht, warum ich ein solches Land bereisen will wünscht mir aber dennoch „счастливого пути“ eine Gute Reise.
Die Gute Reise endet dann abrupt nach gut 100km, als die Straße genau an der Stelle im Fluss endet, wo normalerweise eine ähnliche Pontonbrücke wie in Birsk ihren Dienst verrichten soll. Tut sie aber nicht! Statt dessen liegt sie reichlich derangiert am anderen Flussufer und zeigt mir ’ne lange Nase. Das bedeutet mehr als 400km Umweg für mich!
Ein Passant zeigt auf einen Offiziellen in oranger Warnweste und meint, er könne mir helfen. Offensichtlich befehligt dieser Mann, der mir mit geschätzten 28 Goldzähnen im Mund entgegenlächelt, so etwas wie eine „Personenfähre“. Diese besteht aus einem ausgebauten Segment der derangierten Pontonbrücke und einem angeflanschten Schlepper. Kollege Goldzahn bedeutet mir, dass ich die 3 Meter Weite und 1 Meter Höhe zum Brückensegment „einfach“ über das schräg und wackelig verlegte Holzbrett bewältigen könne, so wie die ca. 100 Personen, die die Fähre schon komplett ausfüllen, auch getan hätten, JA ABER!!! Die müssten auch kein über 220 Kilo schweres Moped darüber wuchten#%*¥£#<!?
Jetzt stellt sich die Frage: Eine Sekunde mutig sein, oder gut 400km Umweg fahren? Ich beschließe mutig zu sein. Den vielen Menschen auf der Fähre bedeute ich per Handgeste, Platz für das Moped zu lassen, doch sie scheinen nicht daran zu glauben, dass ich das wirklich mache. Jedenfalls bewegt sich keiner. So gebe ich ordentlich Gas und schieße mit einem Satz über das labile Brett aufs Boot und siehe da: Jetzt springen alle zur Seite und ich Lande inmitten der Meute, die sogleich applaudiert. Es war eine sehr freundliche Stimmung an Bord auf der kurzen Überfahrt. Eine Frau versuchte sogar auf Deutsch mit mir zu reden! Ich musste als einziger nichts bezahlen. Als letzter verlasse ich die Fähre über das gleiche Brett, doch runter geht’s leichter.
Sollte ich geglaubt haben, das Abenteuer sei nun vorbei, so belehrte mich die verspurte und zum Teil matschige Piste auf den kommenden 70km bis Testuba eines besseren. Aber am Ende ist auch das gut gegangen und es hat sogar viel Spaß gemacht.
Es ist nur so, dass ich ohne Reisepartner viel hilfloser in schwierigen Situationen bin. Ein festgefahrenes oder gestürztes Moped kann da schnell zum ernsthaften Problem werden – etwas, das ich mir nach jedem eingegangen Risiko vornehme, künftig besser zu berücksichtigen!
Nach über 500 Tageskilometern finde ich an diesem Tag einen Traum-Schlafplatz, der sogar matschfrei zu erreichen ist!
- Vielleicht noch ein paar Worte zu den Menschen, die ich in Russland bislang getroffen habe. Ich würde es als sehr zurückhaltende Freundlichkeit bezeichnen, was mir da begegnet. Die meisten schauen kurz zu mir rüber, gehen aber ohne Verzögerung weiter und wirken irgendwie mit eigener Last beschwert – jedenfalls nicht wirklich lebensfroh! Einige heben den Daumen und nur diejenigen, die des Englischen mächtig sind, kommen auf mich zu und beginnen ein Gespräch. Für alle anderen scheint klar zu sein: Der ist von weit hergekommen, mit dem kann ich nicht reden . Aber keiner fällt einem zur Last oder behelligt mich in irgendeiner Weise. Nicht einmal der Bauer, an dessen Acker ich campiere, wenn er früh morgens an meinem Zelt vorbei fährt.
Hallo Wolfram , dein Tag war ja sehr abenteuerlich heute ! Gut geschafft ! Alles was du beschrieben hast ist tüpisch Russland …. schreckliche Straßen, keine feste Brücken , Moder auf der Fahrbahn- etc. etc., Menschen , denen das Selbstbewusstsein fehlt , wenn sie eine aus der *Weite * ansprechen wollen …Du hast den ersten Härtetest mit 1+ bestanden . Schlimmer wird es nicht mehr !Halte durch lieber Wolfram ! Gruß Tanja . Es freut mich , das der Bortsch dir geschmeckt hat 😊
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Hi Wolfram
Total interessante berichte, Freut uns sehr.
Weiter gute Reise .
Aber mit den reisegeseindigkeit kommst du doch bald wieder nach House 😂
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Danke für die guten Worte! Leider weiß ich nicht, wer sich hinter kladow42 verbirgt!
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Hallo Wolfram,ein Buch kann nicht Spannender sein.Obwohl einem bei Deinem Letzten Bericht die Nackenhaare zu Berge stehen.
Weiterhin viel spaß aber vorallem auch viel glück und gutes Wetter.😶
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Der Goldzahn hat mir besonders gefallen, Wolfram. Diese Situation kann ich mir gut vorstellen. 😆 Gut, dass das Moped in der Siuation mitgespielt hat. Gitte
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Hi, Gitte! Ja die Szene Goldzahn war wirklich grotesk! Ich wusste, sie würde Dir gefallen.
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Lieber Herr Krekeler,
gerade bin ich aus meinem Urlaub in Südtirol zurück, der mir gegen Ihre Schilderungen doch recht banal erscheint ;). Es macht Spaß, Ihren Spuren zu folgen, und ich habe an vielen Stellen schon herzlich gelacht! Passen Sie weiter gut auf sich auf! Ich freue mich auf mehr!
Liebe Grüße Kristina Rühl
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Lieber Wolfram, die Fahrt über die Planke klingt spannend. Riskier aber nicht zu viel!😉
Gruß von unserer AHT in Griechenland. Wir waren äusserst Uberrascht über Deine Hotelnutzung. Gab es denn kein Vordach?😂
Ali
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Hallo Ali! So etliche Tage in der Kälte können schon ganz schön zermürben. Da reite ich dann keine Prinzipien mehr!
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Hallo Wolfgang, bei der Internetrecherche bin ich auf deinen Blog gestoßen. Ich werde 2020 mit dem Auto von Berlin nach Magadan fahren und sammle gerade Infos, von „Vorausreisenden“… 😉 Die Beschreibung der Mesnchen in ihrer grdrückten Stimmung trifft es ganz gut. Ich war vor vielen Jahren mit dem Motorrad in Weissrussland und habe diese Niedergeschlagenheit der russischen Seele auch so empfunden.
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