Es gibt Orte auf der Welt, die das Herz eines jeden Fernreisenden in die Höhe schlagen lassen, weil sie einfach tolle Menschen zusammenführen. Dazu zählt ganz bestimmt die „Posta del Viajero en Moto“, die von Jorge seit über 30 Jahren liebevoll aufrecht erhalten wird, und wo ich heute einen Tag verweile und diesen Beitrag schreibe.
Nach einer erstaunlich ruhigen Nacht breche ich schon am frühen Morgen von meinem charmebefreiten Schlafplatz neben der Ruta 3 auf und lasse mich erneut vom Südwind gen Norden schieben. So ist das Fahren wirklich sehr angenehm! Dagegen ist die Landschaft, durch die ich hier quasi fliege, eher einschläfernd. Erst am Nachmittag, als ich die Ruta 3 über die Ruta 33 verlasse, verändert sich das Bild. Jetzt erheben sich erstmals seit Tagen wieder Berge am Horizont. Davor unendlich große Flächen, die landwirtschaftlich genutzt werden. Das ist das erste mal seit Ushuaia, dass ich Landwirtschaft erlebe. Kornfelder wechseln mit Mais-und Sonnenblumen ab. Dazwischen endlich auch die riesigen Weideflächen, auf denen die argentinischen Rinder grasen!

Was jetzt als „Haar in der Suppe“ stört, ist die Hitze, die sich so langsam wieder anschickt. 33 Grad bei sehr intensiver Bestrahlung sind schon eine Nummer im Mopeddress! In Piguë gönne ich mir an der Tanke eine Trinkpause und treffe dort auf Carlos, einen 34-jährigen Mopedfahrer aus Mexiko, der schon seit einem Jahr auf seiner BMW F800GS unterwegs ist. Er will ebenfalls nach Epequén und so schließen wir uns für die Besichtigung der versunkenen Stadt zusammen.
Über Cahué und dann noch 7 km auf einer Sandpiste erreichen wir den Ort, in dem 1985 eine schreckliche Katastrophe stattfand. 1921 am gleichnamigen See gegründet war Epequén ein wichtiger Tourismusort, der für seine Heilbäder aus der gleichnamigen stark salzhaltigen Lagune bekannt war. Da war es für’s Geschäft hinderlich, dass die Lagune starken Wassserstandsschwankungen unterlag, und so hat man einen Kanal gebaut, der den Wasserpegel auf konstant hohem Niveau halten sollte. Das ging zehn Jahre gut, bis dann ein sehr regenreicher Sommer im Jahr 1985 den Pegel so steigen ließ, dass der 4m hohe Schutzdamm um Epequén brach und die Stadt innerhalb weniger Tage vollständig überflutet wurde. 8 Jahre lang stieg das Wasser und erreichte Ende 1993 mit 7m über dem Damm seinen höchsten Stand. Sämtliche Gebäude und Straßen der Stadt standen dann etwa 20 Jahre lang unter Wasser! Da das Wasser so stark salzhaltig ist (ähnlich dem Toten Meer) beschränkt sich die Zerstörung nicht nur auf die Bauten, sondern betrifft auch die Pflanzen.

Es ist ein komplett sureales Bild, was sich in Epequén dem Besucher bietet – eine wahre Apokalypse! So stelle ich mir einen Ort nach einem Nuklearkrieg vor. Komplett zertstörte Straßenzüge und kaum noch Vegetation! Ein Paradies für Photographen, aber ein trauriger Ort für die ehemaligen Bewohner, die aus ihrem schönen Ort am See wegziehen mussten. Nur einer ist geblieben – der heute 92-jährige Pablo Novak. Er weigerte sich im Gegensatz zu seinen 1.500 Mitbewohnern, die Stadt zu verlassen!
Ich ziehe durch die Straßen, die noch immer ihre Namen auf verwitterten Schildern tragen und finde anfangs einige Bauten, deren zum Teil tolle Architektur sich noch ganz gut erkennen lässt. Je mehr man sich aber der Uferlinie nähert, desto vollständiger ist die Zerstörung. Die Sinne versinken in die damalige Kurstadt, ich sehe auf der Seepromenade Paare flanieren, höre auf dem Spielplatz Kinder kreischen und spüre das Salz in der Luft. Einen solchen Ort habe ich noch nicht erlebt!









Ziemlich berührt verlasse ich mit Carlos den Ort der Zerstörung, der auch heute noch einen gewissen Charme versprüht. Wir folgen dem Weg am Seeufer zurück nach Cahué, wo mich die morbide Stimmung des toten Waldes am Ufer so anzieht, dass ich mir einen kleinen Abstecher dorthin nicht verkneifen kann. Nur mit Glück und beherztem Gasgeben bleibt mir eine schwierige Befreiungsaktion für mein Moped ersparrt. Der Boden ist hier ganz weich und verbreitet einen üblen Geruch, aber die Kulisse ist einfach zu schön, um hier ohne ein Photo vom Bike vorbei zu fahren!


In Cahuén gibt es noch das Gelände des „Camping Municipal“, der aber scheinbar schon länger nicht mehr in Betrieb ist. Für ein Plätzchen zum Schlafen reicht es dennoch. Carlos berichtet von seiner Reise, die jetzt am Ende des Geldes enden muss. Er wird alsbald sein Moped in Argentinien verkaufen – hier zahlen die Menschen Phantasiepreis efür solche Mopeds – und dann nur noch kurz auf einen Besuch bei den Eltern in die Heimat zurückkehren. Er hat bereits vor der Reise seinen ganzen Besitz in Mexiko verkauft und wird anschließend nach Barcelona ziehen, wo er nur mit einem Teil der Dinge, die er heute am Moed hat, ein neues Leben beginnen will. Klingt sehr mutig!

Am Samstag trennen mich nur noch 300 Kilometer von Azul, wo ich den nächsten Besuch plane, den mir Kalle aus Ollantaytambo vermittelt hat. Eine 75 km lange Off-Road-Etappe ist darin eingebaut, um mir einen großen Umweg zu ersparen. Schlimm kann’s nicht werden, denke ich, denn die Straßennummer Ruta National 60 bleibt dort erhalten. Ja, dachte ich! Hier lerne ich, dass auch eine Nationalstraße auf dem Niveau eines Trialpfades gepflegt werden kann. Über einige Kilometer kann ich den ersten Gang nicht verlassen, weil sich dort Loch an Loch reiht, dass sogar die hochbeinige Kati des öfteren aufsetzt!
Als ich am frühen Nachmittag am Stadtrand von Azul vor der „Posta del Viajero en Moto“ zum Stehen komme, glaube ich zuerst gar nicht, dass sich hinter dieser verwitterten Fassade noch Leben abspielen könnte. Der Ort hat zweifellos schon bessere Zeiten erlebt. Die Wände wurden vor Urzeiten liebevoll durch Generationen von Mopedreisenden bemalt. Die Farben sind arg verblasst, oder blättern vom Putz ab. Rollläden klemmen schief in den Führungen und Spinnweben kleben an den Fenstern und Türen. Der Klingelknopf zerbricht mit der ersten Betätigung, aber meinem Klopfen folgt tatsächlich bald ein Schlurfen hinter der Tür, und vor mir erscheint das freundlichste Gesicht, das ich mir vorstellen kann: Jorge!
Er freut sich spürbar über den Motorradreisenden und bittet mich herein. Neben einer Wekstatt, in der mich der Anblick einer Ur-Africa-Twin von 1988 zu Tränen rührt (es war mein zweites Moped, und ich habe es soooo geliebt!), liegt ein Gemeinschaftsraum mit Küche, Tischen und Stühlen. Die Wände sind bis auf wenige Flächen bemalt – Über 30 Jahre Reisegeschichte! Die meisten Gemälde stammen aus den Jahren zwischen 1990 und 2010. Ab der Coronaepoche ist es scheinbar endgültig still geworden um diesen beeindruckenden Ort. Ich verspüre eine traurige, ja sogar eine etwas morbide Stimmung, die von dieser Kulisse ausgeht, und im ersten Moment wäre ich gerne gleich wieder abgereist. Doch Jorge ist ein solch herzlicher Mensch, und kurz nach meiner Ankunft tauchen mit Thomas und Gil zwei weitere Reisende auf, dass mir die Posta nach kurzer Fremdelphase so richtig ans Herz wächst.
Am Abend taucht auch noch Steve hier auf, und so verbringen wir mit unseren Gastgebern – Jorge und seine Frau Moni, – einen schönen Abend mit sechs sympathischen Menschen! Am Sonntag wird es zunächst still, nachdem Steve, Thomas und Gil weiter gereist sind. Das gibt mir die Ruhe für diese Zeilen im Blog. Dann schaut schon wieder eine Mopedreisende vorbei: Sabrina aus Buenos Aires. Sie erzählt, dass sie eigentlich gerne bis nach Hause durchgefahren wäre, sich aber nicht traut, mit dem Moped am Abend in die Hauptstadt zu fahren. In letzter Zeit würden auf der Autopista am Stadtrand von Buenos Aires vermehrt Mopedfahrer in Fahrt überfallen und um ihre Fahrzeuge gebracht. Auf gar keinen Fall dürfe ich Ariane morgen in der Nacht mit dem Moped vom Flughafen abholen – na das macht ja Mut!
Ich beschließe, Ihrem Rat zu folgen, bin mir aber je mehr Schauergeschichten ich über Buenos Aires höre sicher, dass ich am Ende nichts von all dem werde bestätigen können, nachdem ich selbst dort gewesen bin – so ging es mir bislang immer! Am Abend laden uns Moni und Jorge zu Asado ein – ein riesige Stück Rindfleisch, dass über dem Grill in der Garage über mehr als eine Stunde gegart wird – köstlich! Jorge erzählt über die Geschichte seiner Posta, die um 1990 herum begann. Er ist im eigentlichen Leben ein Gewerkschaftler für die öffentlichen Angestellten in Azul und widmet sich dem Moped nur als Hobby. Im Laufe der Jahre hat sich seine Gastfreundschaft zu der Einrichtung einer „Posta del Viajero en Moto“ ausgeweitet, wurde dabei aber niemals zu einer kommerziellen Angelegenheit!
Hunderte von Reisende haben es ihm mit Wandmalereien und Eintragungen in zahlreichen Gästebüchern gedankt. Einige wenige gingen weit darüber hinaus: Ein Japaner hat ein Crowdfunding ins Leben gerufen und Jorge im Jahr 2005 eine Japanreise mit Leihmoped und All-Inclusive-Programm beschert. Ein Jahr später tat es ihm ein Deutscher gleich und organisierte eine Mopedreise durch das Land der Dichter und Denker, inklusive einer Einladung als Stargast auf dem Treffen der Mopedfernreisenden in Gieboldehausen im Harz! Davon zeugt noch heute ein Aufkleber auf dem Kühlschrank in der Posta, den Jorge mir stolz präsentiert. Jeden der unzähligen Aufkleber und jedes Wandgemälde kann Jorge mit der dahinterstehenden Geschichte erklären und tut dies auch mit ganzem Stolz!


Auch wenn die Posta nach mitteleuropäischem Hygienestandard keinen Stern bekommen würde, so ist dies für mich als Treffpunkt der Mopedfernreisenden mit vollen 5 Sternen zu bewerten. Ich ergänze die Geschichte der Posta mit einer eigenen Wandmalerei und werde diesen Ort und seine Gastgeber mit warmen Gefühlen in Erinnerung behalten – Muchisimas Gracias à Moni y Jorge!!!


Der Zähler meines Asthmasprays steht auf „Null“! Das war in den letzten Wochen mein Cowntdown bis zum Wiedersehen mit Ariane – heute Nacht wird es soweit sein! Ich freue mich auf die langweilige Reststrecke in die argentinische Hauptstadt, denn nach fast vier Monaten wird es höchste Zeit, die Liebste wieder zu sehen!
Ich finde mich leicht in der „Stadt der Räuber und Mörder“ zurecht und erreiche unversehrt unser Hotel inmitten des Zentrums. Dort kann ich das Moped sicher in der Tiefgarage unterbringen und mich in einen präsentablen Zustand bringen.