Ab Santiago fühlt sich Chile nicht mehr viel anders an als die deutsche Heimat. Der kalte Humboldtstrom des Pazifiks sorgt dafür, dass sich die südlichen Breitengrade in etwa so anfühlen wie die nördlichen Breitengrade plus 15-20 Grad. Das heißt, Valdivia auf 40 Grad südlicher Breite gelegen, hat in etwa das Klima und die Vegatation von Norddeutschland und Südskandinavien. Santiago (33° Süd) verlassen wir am Freitagmorgen bei erträglichen 26 Grad und fahren zunächst durch dichtbesiedeltes Land mit jeder Menge Industriebetriebe. Mit Los Angeles, wo wir übernachten, hört die Besiedlung dann langsam auf.


Industriegebiete weichen Ackerland und Weingütern. Es finden sich nun viele holzverarbeitende Betriebe am Straßenrand. Die Wälder werden vielseitiger; Laubwald wird dominanter! Wären da nicht auf der linken Seite die schneebedeckten Vulkankegel entlang der argentinischen Grenze, man könnte meinen in Europa unterwegs zu sein! Die Fahrt ist bei 27 Grad und Rückenwind ganz angenehm, bleibt aber recht langweilig. Dafür geht’s flott voran. Am Freitag kommen wir am späten Nachmittag in Los Angeles an, und am Samstag folgen wir der Empfehlung von Markus und Volker und suchen die „Casa Rio Vivo“ in Valdivia auf. Dort wollen wir zwei Nächte verbringen und die Zeit bis zur Abfahrt der Fähre in Puerto Montt mit einem Ruhetag füllen.
Valdivia ist das Kajak-Paradies von Chile, denn hier sammeln sich auf dem Weg zur Pazifikküste (nur 15 km entfernt!) zahlreiche Flüsse, die insgesamt 11 Seen aus den Anden entwässern – 7 davon auf chilenischer und 4 auf argentinischer Seite. 1960 kam der Ort zu trauriger Berühmtheit, nachdem ein schweres Erdbeben hier alles in Schutt und Asche gelegt hat. Danach ist die Industrie, die hier vor allem durch deutsche Einwanderer in der Nachkriegszeit angesiedelt wurde, praktisch vollkommen ausgestorben. Die bleibende Veränderung aber ist die Absenkung großer Landflächen um einige Meter, die hier riesige ehemalige Landflächen unter Wasser gesetzt hat. Diese machen heute das Kajak-Paradies aus.
Die Casa Rio Vivo finden wir am Ende einer Straße, die von Valdivia südwärts bis zum Rio Angachilla führt und dort endet. Als sich das Tor zur Casa öffnet, sind wir vollkommen geplättet von diesem wunderschönen Grundstück, das etwa 15 Meter über dem Rio Angachilla liegt. Mindestens genauso beeindruckend sind die beiden Gebäude, von denen eines das Gäste- und das andere das Privathaus der Gastleute sind. Wir bekommen das schönste Zimmer, das über zwei Etagen schiffsbugartig zum Fluss ausgerichtet ist. Ungläubig ob des Glücks, diesen Ort gefunden zu haben, richten wir uns für zwei Tage ein, relaxen etwas in der Hängematte im Garten und genießen den schönen Nachmittag bei 24 Grad und einer ordentlichen Brise aus Nordwest.




Der heutige Sonntag beginnt um 9 Uhr mit einer Einweisung für die Kajaktour, die wir unter Führung von Guillermo (Wilhelm) auf dem Rio Angachilla unternehmen. Danach sind wir vier Stunden auf dem Wasser, das sehr stark von den Gezeiten des Pazifiks beeinflusst wird. Gegen die abfließende Tide und gegen eine steife Brise paddeln wir den Fluss hinauf, um nach etwa einer Stunde in einen Seitenarm abzubiegen, der erst durch das Erdbeben 1960 entstanden ist. An schilfbewachsenen Ufern schlängeln wir uns durch Baumstümpfe, die bis vor 62 Jahren noch auf festem Grund standen – eine bizarre Kulisse, die heute ein Vogelparadies ist.



Wir fahren durch die „neu“ entstandene Wasserfläche entlang dem Schilfufer, das es so auch auf der Mecklenburgischen Seenplatte geben könnte. Alles passt: Die Temperatur, das Schilf, die Waldlandschaft dahinter! Nur die Vogelwelt ist eine zur Gänze andere als in Mecklenburg. Was sich hier so am Ufer an Federvieh tümmelt, sieht sehr paradiesisch aus und erinnert mich keinesfalls an irgendwelche Vögel aus der Heimat. Besonders gefällt mir ein krummschnabeliges, buntes Exemplar mit grünen Flügeln. Er soll auf Spanisch „Cuervo de Pantano“ heißen. Cuervo bedeutet Rabe, aber mit einem Raben hat dieser Kollege rein gar nichts gemein. Da muss ich wohl noch weiter forschen!
Wir genießen diesen Morgen auf dem Wasser sehr, ist es doch mal eine schöne und beschauliche Abwechslung zu den vielen Tagen auf dem Sattel der KTM. Seit Wochen stand immer der Fährtermin in Puerto Montt im Fokus, und dabei war es sehr schwer einzuschätzen, wieviel Zeit wir für die Strecke brauchen würden. Jetzt, da Puerto Montt uns fast zu Füßen liegt, können wir die nicht gebrauchte Zeit in erholsame Freizeit verwandeln. Das hat was!



Kurz bevor wir wieder an den Steg der Casa Rio Vivo zurückkehren, werde ich von ein paar Bremsen attackiert, und versuche mir diese Biester vom Gesicht fernzuhalten. Dabei schlage ich mir mit einer gekonnten Bewegung kurzerhand die Brille von der Nase. Ich sehe sie noch ins Wasser fallen, doch sinkt sie so schnell, dass ich keine Chance habe, sie herauszufischen. Ja, das war’s dann mit der Weitsicht! Mangels Ersatz werde ich den Rest der Reise nun mit einer Dioptrie Kurzsichtigkeit zurecht kommen müssen – keine essenzielle Sache, aber dennoch schade, dass ich beispielsweise auf der Schiffsreise von Puerto Montt nach Puerto Natales Dinge in der Ferne nicht scharf sehen werde!
Nach der Paddelei bleibt noch viel vom Tag übrig. So richtig Dunkel wird es hier erst um kurz vor zehn am Abend. Das liegt u.a. auch an der unpassenden Zeitzone für Chile. Gegenüber Berlin liegen wir hier etwa 85° westlich, das sind 5 Stunden, 40 Minuten Zeitunterschied. Die Zeitzone ist aber nur 4 Stunden hinter Deutschland zurück. Es bleibt noch Zeit für ein paar Wartungsarbeiten am Moped und für einen ausgiebigen Mittagsschlaf in der Hängematte, die ich hier erstmals auf der Reise benutze. So bin ich gut ausgeruht für die vorerst letzte Etappe bis Weihnachten, die uns morgen von hier nach Puerto Montt bringen wird. Das sind nur drei Stunden. Dort werde ich nach Möglichkeit einen neuen Vorderreifen aufziehen lassen, denn der alte, den ich in Los Angeles gekauft habe, war eh nicht das, was ich wollte, und nun ist er auch verschlissen.

Morgen steht noch eine Übernachtung in Puerto Montt an, und am Dienstag geht es dann auf’s Schiff, wobei ich gespannt bin, wie die Mopeds darauf kommen werden. Sie werden als Fracht behandelt, das heißt, wir werden sie nicht, wie bei Autofähren üblich, selbst in das Schiff fahren. Mal schauen, wie das geht! Wir lesen uns dann wohl erst wieder zu Weihnachten in Puerto Natales, denn auf dem Schiff gibt es keinerlei kommunikative Verbindung zur Außenwelt. Drei Tage und vier Nächte ohne Internet – soll auch gehen!
»Und ist die Heimfahrt auch verschwommen,
er ist noch immer angekommen …« 😉
Verwegener Vorschlag: Vielleicht hat’s ja auch in Chile Brillengeschäfte. Auf eine gut konturierte Weiterreise!
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Hallo, Du Weltreisender!
Es ist spannend,mitzulesen! Aber Weihnachten nicht zu Hause? Oder kommt Ariane noch mal “ rüber“.
Da bin ich gespannt , wie ihr das in diesem Jahr so macht!
Vorab schon einmal ein besinnliches Fest, friedvoll und sicher möge es sein!
Beste Grüße, Heidi und Hans-Jürgen
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