Die Zivilisation hat mich zurück! Vancouver Island ächzt an diesem langen Wochenende ein letztes mal unter dem Ansturm von Urlaubern – am Montag ist nämlich Labour Day – bevor die Saison sich an der Westküste dem Ende zuneigt. Ich fahre der schönen Uferpromenade von Qualicum entlang zu meinem traumhaften Strand-Schlafplatz, wo ich heute bereits die dritte Nacht verbringen werde. Ich bin gerade angekommen und lasse mich am Strand nieder, nachdem der Wind deutlich nachgelassen hat, da steht auch schon Sheldon neben mir und lädt zu Tisch – so kann man leben!

Da lasse ich mich nicht lange bitten und gehe, noch in Mopedkleidung, mit Sheldon in seinen Garten am Strand. Dort kredenzen mir Sheldon und Mary verschiedene Sorten Lachs (Natur geräuchert, Maple Siroup geräuchert und Natur getrocknet) und Austern in einer köstlichen Zubereitung, die ich so noch nie bekommen habe. Riesige Austern in einer Panade aus Nüssen, Butter und Ei gebacken – so lecker! Dazu gibt es Salat aus dem eigenen Garten und Honigmelone, sowie eine Flasche Gewürztraminer aus Kanada. Warum heißt es eigentlich „Leben wie Gott in Frankreich“?
Etwas später gesellen sich noch Mary’s Schwester Jane und ihr Mann John dazu, die gerade mit dem Auto aus Saskechewan zurückgekehrt sind. Wir unterhalten uns prächtig und schauen den Wolken zu, wie sie sich langsam zwischen Vancouver Island und dem Festland festsetzen. Für die Nacht und den morgigen Tag ist Regen angekündigt.

Bevor es vollends dunkel wird, verabschiede ich mich von der illustren Runde, um mein Zelt unter die dichten Zedern zu versetzen, wo es bis zum Abbau morgen früh hoffentlich trocken bleiben wird. Sheldon lässt sich nicht davon abbringen, mir dabei zu helfen. Und in der Tat bleibt das Zelt trotz des Regens in der Nacht von Feuchtigkeit verschont. Ich packe alles am frühen Morgen trocken zusammen, da erscheint Sheldon mit zwei Tassen Kaffee in der Hand – ist das zu glauben? Wir sitzen etwa eine Stunde zusammen und verabschieden uns dann. Auch Mary sehe ich zum Abschied. Die beiden sind wirklich sehr herzliche Menschen. Einmal mehr ein komisches Gefühl, zu wissen oder zumindest zu ahnen, dass es ein Abschied für immer sein wird.
Auf nassen Straßen, jedoch ohne Regen, fahre ich die 50 Kilometer zurück zur Fähre nach Nanaimo. Dort treffe ich auf Phill, einen Engländer, der vor 32 Jahren nach Vancouver kam und dort mit Frau und zwei Kindern lebt. Mir fällt sofort sein nagelneuer Hinterreifen auf, ein Heidenau Scout K60 – genau der Reifen, den ich in Vancouver kaufen will. Er nennt mir den Laden, wo er ihn kürzlich vorrätig gefunden hat. Gleichzeitig bietet er mir an: „Solltest Du ihn in Vancouver nicht kaufen können, dann hast Du hier meine Adresse und Telefonnummer. Ich habe ja noch ein Auto, Du kannst dann meinen Reifen nehmen, der ist erst 500 km gelaufen!“ Was für ein Angebot! Wieso sind hier die Menschen so toll drauf? Ich kann die vielen außergewöhnlichen Begegnungen mit Menschen in Kanada kaum noch zählen. Aber ich kann deutlich sagen, sie machen das Land noch mehr aus als die spektakulär schöne Landschaft und die beeindruckende Tierwelt!
Ich lande am frühen Nachmittag wieder an der Horseshoe Bay, wo sich der Regen offensichtlich gerade erst verabschiedet hat. Von hier sind es gerade mal 12 Kilometer zum Haus von Jane und Dough, die in West Vancouver leben. Ich verlasse den Highway an der 22nd Street und fahre diese geradewegs zum Meer hinunter. Die steile Straße erinnert mich an Fernsehbilder aus San Francisco!

Zwei Straßen tiefer finde ich Inglewood Avenue, mein Ziel. Wie schön Jane und Doug hier wohnen, mit einer Top-Aussicht auf die Bay von Vancouver, wo Containerschiffe und Frachter wie Spielzeuge in der Badewanne vor Anker liegen. Ich finde das Haus problemlos und werde gleich von Jane, Doug, Amy und dem Labradoodle Olli herzlich begrüßt. Ich habe sie 6 oder 7 Jahre nicht gesehen, doch sind sie mir noch so vertraut, als wäre es erst kürzlich gewesen – manche Leute altern einfach nicht!
Noch am gleichen Nachmittag unternehmen wir eine sehr schöne Wanderung durch den Regenwald am Lake Capilano, einem großen Trinkwasser-Stausee. Die Runde ist sehr steil und führt durch gigantische Nadelbäume, hauptsächlich Tannen und Zedern. Diese wachsen hier über 40 Meter hoch und die Stämme messen häufig über drei Meter im Durchmesser! Ich hätte mich zuvor der Mopedkleidung entledigen sollen, die Tour ist doch sehr schweißtreibend, aber auf besondere Weise bezaubernd! Leider ist die Knipse nicht dabei, somit kann ich keine Bilder liefern!
Am Abend werde ich köstlich bekocht. Man erinnert sich der alten Zeiten, als Celine hier die West Van Highscholl mit Amy besucht hat. Sie hat bei den Knills offensichtlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen, so sehr schwärmen sie von Celine. Ich bekomme ein sehr schickes Zimmer mit eigenem Bad, mit dem Jane vor Covid-19 ein Airbnb betrieben hat. Eine schöne heiße Dusche und dann ein commodes Bett – auch mal schön!
Der Morgen empfängt uns freundlich. Doug schafft bereits im Garten. Er ist hier derjenige mit dem grünen Daumen. In vier Hochbeeten und einem Gewächshaus gedeihen viele Obst- und Gemüsesorten auf das prächtigste. Stolz präsentiert er mir sein Reich und findet in mir einen bewundernden Schüler. Gegen Mittag ziehe ich mir die Joggingschuhe an und laufe zum Meer runter und dann immer der Uferpromenade entlang bis zur Lions Gate Bridge, die sich erhaben über die Bucht von Vancouver spannt, so dass selbst die dicksten Ozeanriesen darunter herfahren können. Schon lange nicht mehr so schön gelaufen!

Danach geht’s mit Jane, Doug und Olli auf die nächste Wanderung. Hoch erhaben über der Bay of Vancouver laufen wir durch steile Wälder und erhaschen dabei immer wieder phantastische Blicke auf die Bucht. Wir enden auf einer gut bevölkerten Liegewiese mit demselben Ausblick. Dort reichen Jane und Doug ein leckeres Piknik und gekühltes Bier. Wie schon gesagt, lässt Gott es sich offensichtlich nicht nur in Frankreich gut gehen!


Nach dem Piknik geht’s noch runter zum Strand, wo wir Freunde der Knills, Christie und Robert treffen. Auch Matt, Amy’s Bruder, kommt dazu. Ich habe soviel von ihm gehört, ihn aber noch nie getroffen. Wir richten uns am Strand mit Campingstühlen ein und genießen einen Burger, den es hier am Kiosk zu kaufen gibt. Ich wähle einen Lachs-Burger, den ersten Burger seiner Art in meinem Leben – sehr köstlich! Matt hat sein Stand Up Paddle Board dabei und beeindruckt mit akrobatischen Kunststücken auf dem unruhigen Wasser. Es herrscht hier eine nette Stimmung. Alles ist auf den Beinen und genießt die letzten Sonnenstrahlen des verlängerten Wochenendes.


Heute ist Dienstag, der 6. September. Die Geschäfte sind wieder geöffnet, und ich rufe gleich um 9 Uhr bei „Modern Motorcycles“ an, dem Geschäft, dass mir Phill auf der Fähre für den dringend benötigten Hinterreifen empfohlen hat. Und in der Tat bestätigt man mir gleich am Telefon, den gewünschten Reifen auf Lager zu haben – was für eine Freude. Reifen sind nämlich extrem von der weltweiten Lieferkettenproblematik betroffen. Ich fahre bald nach dem Anruf dorthin nach Vancouver Downtown und werde freundlich mit Namen als der weitgereiste Mopedfahrer aus Deutschland begrüßt. Ich schaue mir den zurückgelegten Reifen an, befinde ihn für gut, und gehe dann hinaus zum Moped und baue das Hinterrad aus. Während man drinnen den neuen Reifen auf die Felge zieht, nutze ich draußen die Zeit, mal wieder das vordere Ritzel zu wechseln, welches bereits erkennbaren Verschleiß zeigt. Der viele Regen und die matschigen Pisten haben wohl doch ihr Tribut gefordert. Auch muss ich mich meinem Nummernschild widmen, dass mittlerweile soweit eingerissen ist, dass ich befürchten muss, die untere Hälfte bald zu verlieren. Jetzt ist das Nummernschild ein Multilayer-Laminat aus vielen Schichten Gafaband, Alu-Klebeband und Blech. Dazu noch vergrößerte U-Scheiben; sollte jetzt halten! Ich baue das frische Hinterrad wieder ein und erkenne beim Lesen des Produktionsdatums, dass der Reifen bereits in 2018 produziert wurde. Das erklärt die Verfügbarkeit trotz Lieferkettenproblematik! Ist mir egal, dann hält er umso besser!

Das Moped ist wieder in Topform, das verschafft ein sehr gutes Gefühl! Es ist noch früh am Tag, so unternehme ich eine Sightseeingtour durch Downtown und durch Grandville Island, einer kleinen, sehr hübschen Enklave inmitten zweier Meeresarme. Vancouver hat eine wirklich schöne Skyline, und auch aus der Nähe betrachtet sind viele der Hochhäuser architektonische Leckerbissen. Auch der Hafen verschafft der Stadt, ähnlich wie Hamburg, ein besonderes Flair mit Fernwehpotential. Vancouver ist entgegen der meisten Großstädte, die ich auf der Reise gesehen habe – ich denke da besonders an Thunderbay ind Winnipeg – eine wahre Schönheit. Aber auch hier ist die Obdachlosigkeit ein massives Problem. Auf der Hastings Road mitten im Herzen von Downtown leben Massen von Menschen im Zelt oder in Hütten aus Planen – ein vollkommen surreales Bild in dieser Stadt, die nur so vor Reichtum strotzt.





Nach drei Stunden Sightseeing wühle ich mich zurück nach West Vancouver durch die Rushhour von Downtown – ein einziges Chaos! Kilometerlange Blechschlangen quälen sich zur Lions Gate Bridge, die einen Flaschenhals im Großstadtverkehr darstellt. Das Durchschlängeln mit dem Motorrad à la Berlin ist hier absolut „unappropriate“. In strikter Disziplin reihen sich die Mopedfahrer in jeden Stau. Da kann die Busspur noch so frei sein – komplett unverständlich! Die Ankunft in West Vancouver wirkt nach dem Verkehrschaos in Downtown wie eine Reha. Ich genieße den Garten mit selbstgebackenen Keksen von Jane und schreibe diesen Blog.

Um halb sieben bin ich dann mit Doug zum Abendessen mit seinen Freunden im Golfclub verabredet. Eine schöne, kurvige Küstenstraße führt mich fast zurück nach Horseshoe Bay, wo ich kurz vorher den Golfclub erreiche, und zwar auf dem letzten Tropfen Sprit, wie mir der stotternde Motor klarzumachen versucht. Wie konnte das passieren? Egal, erst mal die kulinarischen Gelüste befriedigen und wieder neue Menschen kennenlernen. Das Spritproblem lässt sich danach noch lösen!
Auf der Terasse des Golfclubs treffe ich neben Doug seine Freunde Scott, Russel und Bob – allesamt Freunde aus der Kindheit. Begeistert von meinem Abenteuer fragen sie mir Löcher in den Bauch und probieren gleich meinen Blog mit Google Translater aus. Ich bin total verblüfft, wie gut das funktioniert. Zumindest der Absatz, den ich probeweise in der englischen Übersetzung lese, ist sehr gut übersetzt! Der Abend ist mal wieder extrem nett, die Menschen, die ich kennenlerne von einer verblüffenden Offenheit und Verbindlichkeit, und dazu schmeckt auch noch das Essen vorzüglich.

Am Ende erfahre ich mal wieder was Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft in diesem Land bedeuten, als mich Bob ganz selbstverständlich mit seinem leeren Reservekanister zur „nächsten“ Tankstelle fährt die nun alles andere als nah ist. Mit gefülltem Tank fahre ich, erstmals auf der Reise im Stockdunkeln, zurück in die Inglewood Ave, wo wir den Abend – den letzten gemeinsamen wohlbemerkt – in trauter Runde ausklingen lassen.
Morgen mache ich mich dann auf gen Calgary. Noch vier Tage, und ich treffe dort Ariane. Freude ist ein zu kleines Wort für das, was ich dabei empfinde!