Es ist Mittwoch, der 10. August. Der nette Besuch bei der Familie Parent liegt nun schon fünf Tage zurück, doch ist seit dem nicht mehr so viel aufregendes passiert. Bei schönem Wetter verlasse ich das Haus der Parents – noch gerade in der Provinz Quebéc gelegen – und betrete bald Ontario, das sich schon mit der Begrüßungstafel sehr businessorientiert gibt.

Die Strecke bleibt auch in Ontario wald- und seenreich. Ich hänge den Gedanken an die schönen Begegnungen nach, erinnere mich beispielsweise an die intensiven Gespräche mit Dennis. Auf dem Friedhof verrät er mir am Grab eines 10-jährigen, der einen Jagdunfall erlitt, dass auch Maggie und er vor etwa 20 Jahren ihren 12-jährigen Sohn verloren haben. Er sei auf seinem Bauch liegend an einer Herzkrankheit gestorben. Kindersterblichkeit ist bei den Cree wohl noch immer ein Thema. Ein anderes Gespäch mit André Parent spukt durch meinen Kopf. Er war früher Captain beim kanadischen Militär und als solcher auch in Afghanistan im Einsatz. Er erzählt, dass er dort viel mit amerikanischen und auch deutschen Soldaten zu tun gehabt hat. Die deutschen Soldaten seien so gut organisiert und sehr zuverlässig gewesen, während die amerikanischen das krassse Gegenteil gewesen seien. So wird mal wieder mit einem Vorurteil aufgeräumt, dass die US-Armee so überlegen sei. Während ich so meinen Gedanken nachhänge fahre ich in die nächste Zeitzone. Ab jetzt sind es 7 Stunde, die ich hinterher bin.

So fahre ich heute etwa 500km durch die Prärie ohne weitere Ereignisse, aber voll mit Gedanken und Erinnerungen, die mich die Kilometerfresserei gut ertragen lassen. Kurz vor Sonnenuntergang erreiche ich Hearst und verlasse mich einmal mehr auf meinen Instinkt bei der Schlafplatzsuche. Nachdem ich ein schickeres Wohnviertel von Hearst durchquert habe, sehe ich in einiger Entfernung einen Flusslauf und davor ein Radweg. Über einen etwas ranzigen Schotterplatz erreiche ich den Radweg und finde einen kleinen Rastplatz mit Piqunique-Tisch direkt am Wasser. Das ist mein Platz! In zwei Minuten steht das Zelt und ein Mann mit Hund kommt vorbei, der nichts dabei findet, dass ich hier campiere, sondern feststellt, dass er mich vorhin auf dem Highway überholt habe. Er sei auf dem Wege von Ottawa nach Vancouver. Sechs Tage habe er veranschlagt. Er sei nebenan im Hotel abgestiegen und führe nur noch den Hund Gassi. So kommt man in Kanada immer leicht ins Gespräch, ob man will oder nicht. Ich will meistens und ziehe eine Menge aus diesen Gesprächen.

Am Sonntag breche ich schon früh auf, den die Jogger sind hier am morgen sehr aktiv. Keiner nimmt Anstoß an meinem kleinen Camp, doch mir ist es schon etwas unangenehm. Heute ist mein Ziel Thunder Bay. Dort war ich im Jahr 2016 zweimal im Bombardierwerk, um ein Lieferantenportal einzuführen. Dies waren zwei der letzten Dienstreisen für mich. Die Vorfreude, an einen bekannten Ort zurückzukehren lässt mich einen weiteren Tag Kilometerfresserei überstehen. Wetter und Landschaft reihen sich prächtig in das Vortagsszenario ein. Die Bahngleise sind mal wieder ständige Begleiter, aber viele Züge verkehren hier nicht. Und wenn, dann sind es ausschließlich Güterzüge.

Heute wird die Szenerie links und rechts des Weges etwas felsiger, und es zeigen sich teils schöne Felsformen. Die Dichte an Seen nimmt ebenfalls zu, aber hier werden die Seen kaum noch genutzt oder deren Ufer bewohnt. So viel Land für so wenige Menschen, das ist beeindruckend! Tiere sind weiterhin kaum zu beobachten, und wenn dann meistens nur in der Luft. Ausnahme eine ordentlich große Landschildkröte, die aber leider ihr Leben bereits ausgehaucht hat, als ich sie neben der Straße entdecke.


Die letzten Kilometer nach Thunder Bay verlaufen auf einem 4-spurigen Highway recht öde, wobei das Ufer des Upper Lake immer wieder schöne Einblicke gewährt. Thunder Bay selbst erweist sich dann als absoluter Reinfall. Meine Dienstreisen haben mir keinen Einblick in die Stadt erlaubt, und so war mir gar nicht bewusst, was für ein hässliches und trostloses Loch diese Stadt ist. Ich hatte mich leider auf 2 Tage Downtown-Leben eingestellt, was ich mir sehr schnell aus dem Kopf schlage. Dennoch bin ich nun mal inmitten der Stadt und suche ein Zimmer für die Nacht. Gar nicht so einfach, es ist alles bereits belegt um 8 Uhr abends. Der Kanadier fährt viel durchs Land und übernachtet dann in den zahlreichen Motels. Ab 17 Uhr werden die zimmer schon knapp. Ich find schließlich eines in einem total trostlosen Super 8 Motel. Die 170 Dollar, die dafür aufgerufen werden, grenzen schon an Unverfrohrenheit. Dafür kann ich nach 2 Wochen mal alle Klamotten waschen, sogar mit Trockner!
Am nächsten Morgen treffe ich vor dem Motel einen amerikanischen Biker, Michael Miner, der gerade seine Honda Paneuropean belädt. Er ist auf einem 6-Tage-Trip rund um Michigan und Upper Lake. Nach wie vor kein europäischer Reisender in meiner Richtung! Nach einem reichhaltigen Frühstück will ich nochmal an die alte Wirkungsstätte zurückkehren und finde am südlichen Rand von Thunder Bay das ehemalige Bombardier und heutige Alstom Werk. Es ist ein sehr kleines, etwas vernachlässigtes Werk, in dem nur produziert und nichts entwickelt wird. Mit den Alstom Insignien mag man sich hier offensichtlich nicht schmücken. Allein eine kleine Tafel irgendwo am Werkszaun zeigt die Alstom-Letter auf weißem Grund, der noch deutlich die Schatten der vormaligen Bombardier-Aufschrift erkennen lässt. Auch die Hinweisschilder auf dem Parkplatz sprechen noch von Bombardier.


Vor dem Werksgebäude stehen die Coaster-Doppeldecker-Waggons, die hier schon seit über 30 Jahren unverändert gebaut werden. Offensichtlich noch der einzige bestehende Auftrag und dessen Ende wahrscheinlich auch das Ende des Werkes? Insgesamt ein weiterer trauriger Anblick auf dieser Reise. Wie sehr doch die Erinnerung die Blicke verklären kann!


Der Abschied von Thunder Bay am Montag morgen fällt nicht schwer. An der Stadtgrenze kaufe ich noch schnell bei Canadian Tire – dem Universalladen für alles technische hier – ein Bärenspray und eine Trillerpfeife. Das wurde mir immer wieder geraten, wenn ich in der Wildnis campieren wolle. Ich habe zwar keine Ahnung, ob das wirklich erforderlich ist und im Zweifel auch nicht, ob ich in einer kritischen Situation überhaupt zur Nutzung des Sprays in der Lage sein werde. Aber zumindest die Trillerpfeife macht ein gutes Gefühl.
Über den Fahrtag gibt es nicht viel zu berichten. Weiterhin Sonne, Seen und Wälder und ein Moped, das wie geschmiert läuft, dabei kaum Sprit braucht und nur alle 550-600km an die Tränke will. Am Abend erreiche ich die Stadt Kenora, wunderschön am gleichnamigen See gelegen. Dieser verspricht eine interessante Schlafplatzsuche. Und in der Tat ist es mal wieder die am Stadtrand gelegene kleine Villenstraße, die zum Sehnsuchtsort führt. Ich biege in diese ein, bestaune ein um das andere schicke Haus, allesamt hoch am Seeufer gelegen. Danach führt die Straße geradewegs zum Wasser hinab, und es tut sich ein parkähnlicher Strand mit Sanitärhäuschen und Piqueniquebänken auf. Weil dieser um 19 Uhr noch recht belebt ist, setze ich mich zunächst nur auf eine der Bänke, ohne gleich das Zelt aufzubauen, und bringe das Tagebuch mal wieder auf Stand. Dabei spreche ich mit netten Kanadiern aus der Nachbarschaft. Ich frage sie, ob ich hier wohl später mein Zelt aufbauen könne. Sie wiegen mit dem Kopf. Es sollte eigentlich kein Problem sein, aber wenn jemand Ärger mache, so sei hier Ihre Adresse, wo ich mein Zelt im Garten aufbauen könne. That’s Canada!

Ich werde die Adresse nicht brauchen, denn wie immer: Es stört sich keiner an meiner Anwesenheit inmitten der ganzen Seevillen. Ich nehme noch ein Bad und kann im Sanitärgebäude sogar das nötige erledigen, bevor es um 21 Uhr geschlossen wird, nicht ohne dabei gründlich gereinigt zu werden! Die Nacht am plätschernden Seeufer ist vorzüglich. Der Untergrund so eben und soft, dass ich auf die Isomatte verzichte. Ohne Reue!


Ich stehe früh auf, noch ehe die ersten Parkbesucher kommen, packe mein Zeug und bin dann mal weg! Heute verlasse ich Ontario und komme in die endlosen Ebenen von Manitoba, eine sehr von der industriellen Landwirtschft geprägten Region Kanadas. Die Felsen und Wälder verlieren sich, an deren Stelle tauchen riesige Getreide- und Rapsfelder auf. Hin und wieder unterbricht nochmal ein See die Felder, ansonsten sind es die riesigen Silos, die allenthalben herum stehen und die endlosen Güterzüge mit bis zu drei Kilometern Länge befüllen.

Heute bekomme ich sogar einen dieser riesigen Züge live vor die Linse. Mit großem Getöse und ständigem Gehupe schleichen diese Monster mit gerade mal geschätzten 50-60 km/h durch die Landschaft, und das oftmals vom Pazifik bis zum Atlantik. Eine schier endlose Reise!

Es ist in dieser Landschaft schon erstaunlich, in welcher Kulisse ich heute wieder meinen Schlafplatz finde. Direkt am Ufer des Lake Shoal verbirgt sich 2km abseits des Highways ein kleiner, sehr hübscher Campingplatz, der kaum frequentiert ist. Bei Ankunft ist die Rezeption bereits geschlossen und bei Abfahrt am heutigen Mittwoch Morgen ….. Ihr kennt denn Rest! Es war wieder eine super schöne Übernachtung mit kitschigem Sonnenuntergang und sogar mit heißer Dusche. Was will man mehr!



Jetzt sind es noch zwei Tage bis Edmonton, wo ich meinem Moped ein bisschen Pflege – insbesondere einen Ölwechsel – zukommen lassen will. Ich habe mich bereits bei einem dort ansässigen KTM Händler angemeldet. Gerade habe ich die Grenze zu Sashatchewan überfahren und auch die nächste Zeitzone erreicht. Es sind jetzt 8 Stunden, die mich von Mitteleuropa trennen.
Lieber Wolfram,
Tolle Eindrücke Deiner Reise, die einem so ein bisschen vermitteln, irgendwie dabei zu sein.
Traumhafte Übernachtungsplätze, die Du da immer wieder findest.
Bombardier – Alstom, was für eine Episode und doch irgendwie nachvollziehbar ( zumindest für Insider) , dass Alstom nicht wirklich der Name dort ist, den man an so einem traditionsreichen Werkstor haben will….
Wir wünschen Dir weiterhin eine tolle Reise. Liebe Grūße, Kitty und Micha
@ Ich bin langsam auf dem Wege der Besserung, habe zwar noch ne ordentliche Wegstrecke, um wieder richtig fit zu werden, aber im Vergleich zu vor 3 Wochen sind das schon Quantensprünge. Die Maschine wurde leider als Totalschaden bewertet….. und sieht übrigens auch schlimm aus. Hauptrahmen verzogen inkl. Gabelrohre 🥴.
Pass auf Dich auf, Micha
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Lieber Wolfram, ich freue mich mit dir über deine Erlebnisse mit den Menschen. Es lässt mich so hautnah miterleben und ruft Erinnerungen unserer Kanadadurchquerung 2001 wach. Danke fürs Teilen. Thunder Bay war auch nicht unseres. In Saskatchewan ist mir Regina als Stadt mit einem alten Regierungsgebäude in Erinnerung. Die prächtige Eingangshalle haben wir damals besichtigt.
Weiterhin gute Fahrt, bleib gesund, Anja
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